nucleus-magazin |
Dienstag, 13. November 2012
veicolare, topic: Terra incognita, 00:57h, Klicks: 422
Schon seit längerem habe ich so ein bestimmtes Bild vor Augen.
Ein Haus, schemenhaft weiß, steht am Meeressaum. Dort gibt es keinen Sandstrand, nur grüne Wiese. Ein Haus auf der Wiese. In diesem Haus leben Menschen, die in einer Art Dauertraum verfangen sind. Sie leben dort, aber es ist nur ihre eigene Realität und ihre eigene Zeitdimension. Diese Menschen sind die Figuren meiner Fantasie. Sie wissen davon aber nichts und ihr Leben macht ihren eigenen Sinn. Von außen kann man ihnen zuschauen. Man kann aber auch wegschauen. Oder sich unsichtbar und heimlich hinzugesellen. Phantasien über ein Haus am Meer. Die Sonne rutscht hinter die zart gewellte Meereslinie. Es ist so eine Zwischenstimmung. Alles in warmgelb, orange und die Meeresfläche ultramarinblau, so gelb angestrichen, doch dabei nicht grün geworden. Eine kurze Zeitspur lang alles warm, sonnig, einheitliches Wohlgefühl. Außen- und Innenharmonie. Ich drehe mich um. Schaue zum Haus. Ist es dort auch harmonisch? Hinter dem Fenster im ersten Stock erkenne ich die wie ein Scherenschnitt wirkende Figur einer jungen Frau mit hüftlangen glatten Haaren. Sie wird nicht von der Sonne beschienen. Sie bereitet sich schon auf die Nacht vor und merkt nichts von der Sonnenflut. Sie weiß nur, dass es Abend ist und legt ihre Kleidung für die Nacht in einen alten großen Koffer. Sie erledigt dies ganz ruhig und im Einvernehmen mit den Gegebenheiten des Tageslaufs. Aber sie spürt nichts vom Glück eines solchen Abends am Meer. Sie sieht nur den Koffer und erledigt mechanisch ihre Aufgabe. Ihre Stimmung steckt mich an. Ich wende mich vom Haus ab und schaue aufs Meer. Wehmut, die ich nicht verstehe, überkommt mich. Ruhig schaukeln sich die Wellen durch das Meer, dunkler als vorhin und das Gelb vergrünt auf einmal den Himmel. Vorbei, denke ich. Gleich ist es vorbei. Dann kommt der Wind, die Kühle und die Dunkelheit. In mir packt auch etwas den Koffer. Ich wende mich ab vom Meer, werde nicht teilnehmen am Schauspiel der heraufziehenden Nacht. Ich gehe stattdessen zum Haus, öffne leise die Tür und schlüpfe hinein. Hier ist alles still. Durch die halb geöffnete Tür, die zu einem der Zimmer führt, sehe ich einen Mann auf einer Couch sitzen, er schaut Fernsehen, doch kein Ton ist zu hören und der Mann ist wiederum nur ein weichgezeichneter Scherenschnitt. In der Küche nebenan hantiert eine Frau lautlos am Küchentisch. Sie trägt eine Schürze und hat eine merkwürdig nach außen gerollte Frisur. Sie erinnert mich an die Musterhausfrauen aus den Fünfzigerjahren, aber auch sie bleibt schwarzkonturlos. Wohin soll ich mich in diesem Haus bewegen? Hier unten ist es schon ziemlich dunkel und ich habe das Gefühl, dass es man es hier noch gar nicht weiß, dass es Abend ist und die Nacht sich tatsächlich nähert. Zu verhaftet die beiden zwischen Küchendienst und Feierabendritual, fühle ich mich hier nicht wohl mit meiner inneren Nachtahnung. Mich zieht es nach oben. Zu den letzten Lichtstrahlen des gerade vergehenden Tages und zu der so teilnahmslos ergebenen, jungen Frau. Langsam gehe ich die breite Treppe nach oben. Genau in der Mitte. Als ob ich zu einem Auftritt schreite, nur andersherum. Oben gibt es vier Türen. Das Licht strahlt am stärksten aus einer Tür auf der linken Seite des kleinen Flurs. Werde ich sie dort auch antreffen? Darf ich überhaupt hinein, in dieses Zimmer? Sollte ich überhaupt hinein? Was will ich dort? Was meine ich dort zu finden? Wird es mich weiter bringen oder werde ich aus der Bahn geworfen? Ich bleibe am Treppenabsatz stehen. Bilanzziehen in Lichtgeschwindigkeit. Zukunftsimaginieren. Ich drehe mich innerlich um, schaue nach unten und weiß, dass ich dort nicht hingehöre, nicht hinwill in diese zeitlose Alltagslangeweile vertrauter Sinnlosigkeit. Was ist mit den anderen drei Türen? Sie sind geschlossen oder fast geschlossen. Keine Einladung. Braun und langweilig. Nein, nichts lockt hinter ihnen und ich mag dieses Braun nicht. Ich bleibe noch ein wenig stehen. Innehalten vor einem bedeutungsvollen Schritt? Ich versuche ein Geräusch zu erlauschen, aber nein, es ist ein Haus ohne Laute. Wenn man mich sowieso nicht sieht, kann das Hineinspazieren in diesen Raum nicht so schwer sein. Ich muss einfach losgehen. Hier auf dem Treppenabsatz ist keine Zeit und kein Raum, nur ein Blick auf Möglichkeiten. Ich setze mich, lege den Kopf auf meine Arme und schlafe ein. Im Traum sehe ich wieder dieses Haus, in dem ich mich gerade befinde, aber die Menschen dort sind aus Fleisch und Blut, sie bewegen sich in ihrem Haus, lachen laut und schimpfen, Töpfe mit dampfendem Essen werden hin- und hergeschoben, das Haus ist erfüllt mit Sprache und Gerüchen und Lebenslust. Plötzlich sehen sie mich auf dem Treppenabsatz sitzen und rufen mich zum Essen. Ich erschrecke und wache auf. Mittlerweile ist es hier oben auf dem Treppenabsatz schon dunkel geworden, es zieht auf dem Boden und ich stehe langsam wieder auf. Gerne würde ich mich einmal strecken, aber es scheint mir, als stünde mir dies als Eindringling nicht zu. Gerade noch zum Essen gerufen, jetzt schon wieder Eindringling - meine Laune sinkt und ich beginne zu resignieren. Wer bin ich hier eigentlich, nur Voyeur oder Eindringling? Einen spontanen Impuls nach draußen und einfach aufs Meer hinauszulaufen unterdrücke ich, als ich durch den weit geöffneten Türspalt sehe, wie sich die Silhouette der jungen Frau von rechts nach links bewegt und dann wieder aus meinem Sichtfeld verschwindet. Vielleicht kann sie mir ja ein wenig Gesellschaft leisten, wenn ich es auch nicht kann. Ich beginne vorwärts zu gehen. Ganz langsam setze ich Fuß vor Fuß, wer weiß, ob sie mich nicht doch hören kann. Behutsam trete ich an ihr Zimmer heran und schaue hinein. Sie steht vor einem riesigen Schrank aus dunklem Holz und schließt eine der großen Flügeltüren. Dann dreht sie sich um. Ich höre auf zu atmen. Wenn sie mich jetzt sieht, ist es vorbei mit meinem Besuch, denke ich noch, als sie schon gemessenen Schrittes an mir vorbeigeht. Ich versuche ihr Gesicht zu erkennen, aber es bleibt konturlos, eine unergründlich schwarze Fläche. Ihre Figur ist schön, sie hat etwas feines an sich, ihr Kleid reicht bis zum Fußboden. Ich beschließe, mich auf ihr Bett zu setzen, neben den großen dunklen Koffer, der jetzt geschlossen ist. Sie nähert sich nun einem der großen Sprossenfenster, öffnet dieses und greift weit nach rechts und links aus, um die Fensterläden an sich heranzuziehen und alles zu schließen. Kein Geräusch und ich frage mich, ob sie mich atmen hört. Offensichtlich nicht. Sie geht direkt an mir vorbei zum nächsten Fenster, der Saum ihres Kleides streift meine Beine, weht auf vom unsichtbaren Luftzug. Nachdem auch das zweite Fenster verdunkelt ist, kommt sie auf das Bett zu. Kann sie mich auch spüren? Sie greift mit ihrer Hand nach der Steppdecke, rückt sie zurecht und schaltet das Licht der kleinen Lampe aus. Nun ist es fast schwarz im Zimmer, ich kann sie nicht erkennen, erst als meine Augen sich an das Licht, das durch die Fensterläden fällt, gewöhnt haben, sehe ich sie als Schatten ihr Bett umrunden und sich vor den Koffer stellen. Sie schließt dessen Schnallen, einen Moment lang hält sie ihre Hände auf dem Koffer und verharrt in dieser Haltung. Ich möchte sie anschauen, aber es ist dunkel und sie ist nur mehr ein Schatten vor den Lichtritzen. Dann ergreift sie den Koffer und verlässt den Raum. Es ist plötzlich so still, als hätte es vorher etwas Hörbares gegeben. Ich fühle mich einsam und lasse mich langsam rückwärts auf ihr Bett sinken. Plötzlich wird es hell im Zimmer und ein Schatten erscheint an der Zimmerdecke, der immer größer wird. Jemand kommt langsam und schleppend die Treppe hoch und bleibt oben kurz stehen. Die Frau mit der Haartolle. Der Schatten huscht zur Seite weg und das Licht geht wieder aus. Auch hier kein Geräusch zu hören. Würde sie erschöpft von Tag und Jahren aufächzen, wenn sie sich ins Bett legt? Schläft sie wie ein Stein ein oder liest sie noch etwas? Wartet sie auf ihren Mann oder lässt sie sich alleine in den Schlaf sinken? Ich überlege, ob ich nachschauen soll, aber mir ist nicht danach. Stattdessen setze ich mich auf und beginne, langsam meine Schuhe auszuziehen. Eine Tür geht auf, Licht fällt ins Zimmer, ihr Schatten erscheint und ein zweiter Schatten wächst langsam an der Zimmerdecke zu einer Zwillingssilhouette. Ihr Mann trägt sich und seinen Bauch nach oben und verschwindet hinter ihr im Zimmer. Die Tür schließt hinter ihnen und wieder ist es dunkel. Dunkle Stille. Das Meer ist jetzt schwarz. Das Licht, für das ich nach oben gekommen bin, ebenso verschwunden wie die behende arbeitende junge Frau. Ich könnte wieder gehen. In die Nacht. In die Kälte. In meine Wohnung. Aber dort wird es nicht viel anders als hier sein. Ich stelle meine Schuhe neben das Bett und rücke vorsichtig auf der Decke zurück. Die Tagesdecke aus gestepptem Stoff ist weich, fast so seidenweich wie der Saum ihres Kleides und ich streiche mit den Handrücken wie ein sanftes Flügelschlagen darüber. Sie hat so ein schönes großes Bett, denke ich und beginne zu lächeln. Für eine Nacht möchte ich hier in Schlaf versinken. Es scheint, als verströme die Decke unsichtbar einen zarten Duft nach etwas Zauberhaftem. Zum ersten Mal seit langem freue mich von innen. Ich schließe meine Augen und meine Phantasie schenkt der jungen Frau ein Gesicht und ich schlafe ein. Ein traumloser Schlaf, ein merkwürdiges Rauschen weckt mich. Das Meer oder etwas anderes? Es wird immer stärker, ich bewege mich zum Fenster hin, öffne die Fensterläden und schaue in die Dunkelheit hinaus. Ich meine, etwas am Ufer zu erkennen. Sie und ihr Koffer? Unruhe überfällt mich und ich möchte nach draußen. Schnell die Schuhe angezogen, laufe ich schon die Treppe herunter, taste mich durch den Flur zur Haustür, öffne sie und bin draußen. Jetzt gehe ich langsamer. Das Gras ist schon nass, es muss schon später in der Nacht sein. Ja, es ist sie, ihr Koffer steht weit geöffnet neben ihr, die Öffnung zeigt zum Meer und etwas scheint aus dem Koffer herauszuschweben. Wie lange steht sie schon dort? Langsam kann ich wieder ihren Umriss und ihre Haare erkennen, die sanft im Nachtwind hin und her schwingen. Das Rauschen scheint aus dem Koffer zu kommen, das Meer liegt ganz ruhig. Ich bleibe stehen. Auch wenn sie mich nicht sehen kann, ich möchte nicht mehr weiter gehen. Ich kann auch von hier genug sehen. Wie sie in den Koffer mit ihren Händen greift und langsam Kleidungsstück für Kleidungsstück hervorholt. Fast durchsichtig und schimmernd werden sie vom Wind aufgenommen und über das Meer in den Himmel getragen. Sie steigen höher und verschwinden, nur um von weiteren Kleidungsstücken, die ebenso zart und stofflos sind, abgelöst zu werden. Und immer wieder bückt sie sich über den Koffer und holt neue Kleidung heraus, auf die gleiche fast unbeteiligte Weise, wie sie den Koffer am Abend zuvor gepackt hatte, holt sie nun die Dinge wieder hervor, die den gleichen Weg antreten wie die vorangegangenen Stücke. Ich folge ihnen mit den Augen und dann sind sie wieder eins mit der Nacht. Gebannt schaue ich und verstehe doch nichts. Ich kann mich nicht davon lösen. Vom Wind in ihren Haaren und ihrer gleichmäßigen Bewegung, von dem Schweben und dem Rauschen aus dem Koffer - ein allererstes Geräusch. Wie schön sie ist. Und die Nacht. Die Nacht ist plötzlich schön. Die Nacht entsteht aus ihrer Kleidung. Sie ist die Nacht! Wie unendlich tröstlich. Ich gehe. ... permalink |
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Letzte Aktualisierung: 2014.07.26, 12:50 status
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