nucleus-magazin

Montag, 29. Oktober 2012

Sie sitzt am Nachbartisch.
Ich kenne sie nicht.
Sie erweckt meine Aufmerksamkeit, weil sie ein grauweißes Buch mit unglaublich grell roten und langen Fingernägeln in einer bedrohlich wirkenden Umarmung hält. Das Rot der Nägel erinnert an in Blut getauchte Finger.
Sie hält das Buch fest, klappt es wieder zusammen, klappt es wieder auf und wieder zu und wieder auf.
Ich habe mein eigenes Buch mit, aber nun bin ich abgelenkt.
Sie sitzt wohl schon länger alleine dort, das Bestellte geht zur Neige.
Sie rückt sich auf ihrem Stuhl zurecht, wendet das Buch in ihren Händen und senkt wieder den Blick auf die Buchstaben.
Mit einer ruckartigen Bewegung hebt sie plötzlich den Kopf, bewegt ihn leicht wiegend hin und her und richtet den Blick zum Fenster hinaus, dabei scheint sie zu sprechen, aber ihre Lippen bewegen sich nicht.
Stattdessen streckt sie ihren Rücken, umgreift das Buch neu und vertieft sich wieder in ihre Lektüre.
Was für ein Buch liest sie? Von dort aus, wo ich sitze, sehe ich nur eine Rückseite mit einem Foto eines älteren, bärtigen Mannes.
Sie ist auch nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Sie ist ein kantiger Typ, der kleine Bauch sympathisch deplatziert. Die Disharmonie ihrer Ausstrahlung lässt sie nicht souverän, aber zugleich reizvoll wirken. Ihre irgendwie längere und widerspenstige Stufenschnittfrisur scheint so gar nicht zu der sonstigen unauffälligen Kleidung zu passen, ihr Gesicht wirkt angespannt und entrückt zugleich.
Plötzlich erscheint ein Mann und weist sie entschieden darauf hin, dass der Platz an dem sie säße reserviert sei, das Schild "Reserviert" stünde doch dort und erklärt ihr, dass er immer dort sitzen würde.
Sich schnell entschuldigend, dass sie sowieso fertig sei, steht sie auf und ich bedaure, den Buchtitel nun nicht mehr mitzubekommen.
Doch sie setzt sich mit all ihren Sachen auf die andere Seite des Ganges.
An der linken Hand entdecke ich eine Kombination von zwei Ringen übereinander. Ein Ehering und ein Ring mit anderer Bedeutung? Das Bronzefarbene der Ringe kontrastiert mit dem Rot der viel zu breit ausgemalten Nägel. Sie versucht, sich auf das Buch zu konzentrieren, aber sie rutscht immer wieder hin und her und streckt den Kopf über die Lektüre hinaus in den grauen Sonntagnachmittag.
Ob es das Buch ist, das sie so in Unruhe versetzt oder etwas anderes? Muss sie den Nachmittag zwangsweise alleine verbringen? Ich kann mir nichts vorstellen. Keine Geschichte zu ihrem Nachmittag im Café.
Stattdessen versuche ich, den Titel des Buches zu erkennen. Er ist lang und die vielen Buchstaben ergeben kein bekanntes Wort.
Mein Blick wandert zu ihrem Schuhwerk, das genauso unspektakulär wie die Stoffhose wirkt - die Fingernägel werden zu Punk.

Sie blättert noch ein wenig in ihrem Buch, klappt es zu und geht.

Pepetela.

Und eine ganze Geschichte.

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Letzte Aktualisierung: 2014.07.26, 12:50
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