nucleus-magazin

Dienstag, 31. Juli 2012

oder wie ich Gelsenkirchen erfahre.








Robert-Geritzmann-Höfe 1999

Von Gelsenkirchen kannte ich nur einige Ecken. Die Feldmark mit der Hans-Böckler-Allee und ein wenig das Drumherum, zum Beispiel erinnere ich mich noch an das Gehen auf dem schmalen Bürgersteig entlang des Küppersbusch-Werksgeländes, das dann im Zuge der IBA verschwand:





http://www.baukunst-nrw.de/objekte/Kueppersbusch-Siedlung--288.htm
Tipp: Umkreissuche ausprobieren!


Die anderen Orte, die mir geläufig waren und das, woran ich mich dabei erinnere, sind schnell erwähnt:
Auf dem Weg zum Westfriedhof in Heßler überquerten wir auf der Fußgängerbrücke Autobahn und Bahnlinie, und spekulierten des öfteren darüber, wie und warum Menschen an einer Autobahn wohnen konnten, wollten? Der Friedhof entsprechend autoumtost.
Ich kannte auch den Ruhrzoo, am liebsten war mir dort der Eingangsbereich mit Papagei, die schöne parkähnliche Gestaltung und als Attraktion, die Fütterung der Seerobben. Und last but not least die Paulinenstraße in Bismarck, die Eisdiele dort und die Telefonzelle am gegenüberliegenden Platz, von der aus meine Oma und ich alle paar Tage meine Eltern anriefen.

Nun also als Erwachsene in Gelsenkirchen.

Neuland.

Was gibt es in einer Stadt, die man gar nicht kennt, zu entdecken?

Alles.

Zunächst aber das Augenfällige:

Die Kunst am Bau. Sie fiel mir buchstäblich ins Auge und wurde zu einem ersten - leider nicht realisierten - Projekt:

Flache Reliefs mit Motiven aus der Arbeitswelt wie Stahlkocher oder Chemielaboranten, Mosaike und Steinmetzarbeiten.
Ich begann, sie zu fotografieren und überlegte, ob es realistisch sei, sie alle ausfindig zu machen und eine Auswahl in einem Buch zu präsentieren - schnell wurde klar, dass sich das zu einem sehr umfangreichen Projekt ausweiten würde,- ich ließ die Idee ruhen und fand dann einige Jahre später dies:

http://www.gelsenkirchener-geschichten.de/viewtopic.php?t=873&postdays=0&postorder=asc&start=0


Gelsenkirchen - erkannt, verkannt?

Meine Eltern hatten bei der Frage nach ihrer Herkunft stets nur "Ruhrgebiet" gesagt, - sie schäm(t)en sich dafür, aus Gelsenkirchen zu stammen.

Vielleicht auch aus einem Rest an kindlichem Protest entschied ich mich, ganz vorurteilsfrei auf Gelsenkirchen zuzugehen. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass die Einheimischen aber häufig selber mit Gelsenkirchen als ihrem Wohnort haderten.
Eine Mischung aus den verschiedensten Aspekten, die sie nannten, bildete ein merkwürdig schiefes Bild einer Stadt, in der alles nur in Ansätzen zu existieren schien oder verkümmerte und - irgendwie gehasstliebt wurde.
Der eine fokussierte sich auf den beruflichen Aspekt - hier könne man keine Karriere machen. Er ging - nach Bochum.
Ein anderer zog mit seiner Familie nach Marl -Polsum, - in Gelsenkirchen könne man doch kein Kind guten Gewissens aufwachsen lassen. Ein Familienmitglied zog nach Bochum - der gehobeneren Lebensqualität wegen.

Ich bemerkte aber bei diesen Menschen noch etwas - eine unterschwellige Angst, hier überhaupt nicht mehr wegzukommen. Gelsenkirchen - die Stadt mit der magischen Anziehungskraft. Würde man ihr erliegen, würde man auf immer und ewig in ihr und in Trägheit verharren.
So charakterisierten es zumindest die Auswanderer. Als ob das bloße Verlassen dieser Stadt einen Entwicklungsschritt bei ihnen in Gang setzen würde, der ihnen verwehrt bliebe, würden sie hierbleiben.

Hindert Gelsenkirchen seine Bewohner tatsächlich an innerer und äußerer Entwicklung - oder ist es nicht eher eine sehr originelle Ausrede, in ihrer Art eine vermutlich einzigartige Erscheinung?

Gedanken dazu von Jürgen Kramer, unlängst verstorbener Maler und Denker und Seismograph der Gelsenkirchener Lebenskunst:

http://www.gelsenkirchener-geschichten.de/viewtopic.php?t=5567&highlight=rabe489


Bin ich auch ein Flüchtling?

Ich wohne nun schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in meinem Geburtsort. Ich bin früh weggegangen, auch weil ich keinerlei Verbundenheit zu der Stadt spürte, in der ich aufgewachsen war.
Dort wurde ich oft als anders empfunden, meine Aussprache der Dinge (Gelsenkirchener Dialekt!) moniert - und ich fühlte mich im Übrigen auch immer irgendwie lebendiger als meine ostwestfälische Umgebung.
Es lag also eher am Menschenschlag als an der Stadt und ihren Möglichkeiten. Ich wurde und werde einfach nicht warm mit Bielefeld und bin jedesmal froh, wenn ich mich in Zug oder Auto sitzend, wieder hinausbegebe.

Irgendwie berührten mich also die genannten negativen Aspekte Gelsenkirchens nicht. Ich verspürte persönlich nichts Defizitäres an Gelsenkirchen als Stadt. Die Geschichte und Gegenwart versprachen schon an sich ein interessantes kulturelles Angebot, man musste sich nur darauf einlassen.

1. Fortsetzung

Die Annäherung an die Kultur in Gelsenkirchen erfolgte tastend, schrittweise - da ich sowieso einen Bibliotheksausweis brauchte, war der Weg zur Stadtbücherei Gelsenkirchen einer der ersten in der Kulturbegehung.

http://www.stadtbibliothek-ge.de/

Mir gefielen Aufbau und Atmosphäre von Gebäude und Büchern und da mir zuhause noch ein Internetanschluss fehlte, loggte ich mich auch gleich in dem im zweiten Stock gelegenen Internetbereich ein. Auch dort immer hilfsbereite Mitarbeiter - ein erster angenehmer Kulturort in Gelsenkirchen.

Die dort ausgelegten Flyer nahm ich mit, kaufte mir einen Stadtplan von Gelsenkirchen und fuhr los.

Das nächste Ziel war eine Veranstaltung in der Künstlersiedlung Halfmannshof. Es war Sommer und ich konnte meine Verwandtschaft zu einem Besuch überreden - wir schauten uns alles an, hörten der engagierten DixieLandBand zu und ja - es packte mich nicht so wie beim Besuch der Künstlersiedlung Worpswede - vielleicht kein Vergleich, aber warum eigentlich nicht?

Keramik, Holz, Metall und Zeichnungen - es fühlte sich an wie eine Mischung aus Freilichtmuseum und ambitioniertem Hobbykünstlermarkt.
Keine inneren Schwingungen.
Bei späteren Besuchen gefiel mir zwar immer das Kaminzimmer und die dort ausgestellten Vögel, aber auch dort fehlte mir eine Nuance von Unbedingtheit.

Es war nett dort, aber nicht weltbewegend.



Halfmannshof, Sommer 1999


Nun kämpft der Halfmannshof um Status Quo - und ich bin gegen die bebauungstechnische Konzeptidee, aber das ist auch kein Konzept.

http://www.kuenstlersiedlung.de/

Der Halfmannshof bräuchte das Recht auf einen Neustart - von innen.

2. Fortsetzung
Aber: Ich möchte noch ein wenig im Thema bleiben.

Die Künstlersiedlung.

Ganz unabhängig von dem, mit welchen Materialien Kunst in einer solchen Siedlung erstellt wird, unabhängig von der Anzahl der Jahre, die ein Künstler dort wohnt und arbeitet, unabhängig von Alter und Gender der Künstler, ist für mich ein zentraler, vielleicht sogar der zentrale Punkt - der Impuls, der von einer derartigen Siedlung ausgehen sollte.
Nicht allein ein Vor-sich-hin-schaffen und einmal im Jahr vorzeigen, sondern eine starke künstlerische Schaffenswelle sollte aus diesem Ort heraus in die Stadt hineingetragen werden, sollte weiter in das Land und in die Welt hinausfließen. -
Es gibt nicht so viele Künstlersiedlungen, oder auch Künstlerkolonien, als dass dies ein aussichtsloses Unterfangen wäre, das einem Schwimmen in einer unübersehbaren Masse gleichkäme.

http://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCnstlerkolonie#Bekannte_K.C3.BCnstlerkolonien

http://www.worpswede-museen.de/index.html

Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass Gelsenkirchen über eine derartige Kolonie verfüge, war ich hin und weg. So deutlich stand noch der Aufenthalt in Worpswede vor meinen Augen, dass ich es kaum erwarten konnte, nun zum Halfmannshof zu fahren.
In Worpswede war ich 1987 gewesen, mit 13, im Schlepptau kulturinteressierter Eltern und bis dahin ohne nennenswertes eigenes kulturelles Interesse.
Worpswede überraschte mich und nahm mich ganz gefangen. Ich kann das nicht mehr in Einzelheiten auflösen - es war alles. Natur, Gebäude, Menschen, Kunst.
Zum kurz darauffolgenden Geburtstag hatte ich nur einen Wunsch, den großen Band mit allen Künstlern und Bildern - Heinrich Vogeler gefiel mir, Paula Modersohn-Becker erschreckte mich mit ihren großen Augen, fasziniert aber war ich von den Landschaftsbildern aus Worpswede - die Birken, das Mondlicht....it just took me. Es war geradezu mystisch, vielleicht mein Erweckungserlebnis in Bezug auf Kunst.

Dass es so etwas nun in meinem Wohnort geben sollte - die Vorfreude auf den Halfmannshof war riesig - und wurde enttäuscht. Ziemlich.
Das begann schon bei der Anlage von Gebäuden und Architektur, - es wirkte mir alles eine Spur zu klein, zu steril, zu aufgeräumt. Daran konnten die Holzstapel und Windspiele vor den Häusern auch nichts ändern.
Die Exponate sprachen mich auch alle nicht an, ich mag zwar gefiederte Tiere mit Schnabel, auch in Keramik, aber das bringe ich nicht mit einer Künstlersiedlung in Verbindung.
Ich hatte gedacht, hier auf Ungesehenes, Unerhörtes zu treffen und mit Bildern in Kopf und Herz und vielleicht einem fantastischen Katalog nach Hause zu gehen.

In den folgenden Jahren kam ich immer wieder mal zum Halfmannshof, in der Hoffnung doch noch von den Dingen angesprochen zu werden, - mit dem Zuzug von neuen Mitgliedern wurde es vielleicht ein wenig dichter in der Eindrücklichkeit, aber meine unausgesprochene Erwartung nach einer sich gegenseitig inspirierenden und befruchtenden Künstlergemeinschaft mit einem Ziel eines unverwechselbaren und starken Labels "Entstanden in der Künstlersiedlung Halfmannshof" wurde nicht entsprochen.

Die aktuelle Ausstellung von Rolf John läuft noch bis morgen.

Am meisten faszinierte mich diese Tür zu einem scheinbar verwunschenen Garten hinter der Ausstellungshalle -



Halfmannshof, Juni 2012


3. Fortsetzung

Zurück in der Innenstadt wurde ich in der Stadtbibliothek eines Plakates gewahr, das einen Wettbewerb vorstellte, in dem man sich in Schriftform und mit begrenzter Wortzahl mit Gelsenkirchen auseinandersetzen sollte.
Das wollte ich auch einmal ausprobieren, das Ganze ging, meine ich, an das Kulturamt, so genau erinnere ich aber mich leider nicht mehr.
Ich schrieb einen fiktiven Brief an meine Mutter und erzählte ihr vom jetztigen Gelsenkirchen - zur Jahrtausendwende-, stellte ihr Fragen über das Gelsenkirchen, das sie von 1937 bis 1973, mit kriegsbedingten Unterbrechungen versehen, bewohnt hatte und war so ganz in meinem Element.
Irgendwann wurde dann das Ergebnis bekannt gegeben - nein, mein Beitrag war nicht dabei - ein Text zum Dritten Reich machte das Rennen, daran erinnere ich mich noch, aber eben auch, mit wieviel Interesse ich diesen "Brief" geschrieben hatte:
Irgendwie schien mir Gelsenkirchen besonders schutzbedürftig und verteidigungswürdig und so habe ich dann das aufgezählt, was mir als Zugezogene an Gelsenkirchen besonders auffiel und gefiel - leider ist der "Brief" verschollen.

Mal wieder in der Stadtbibliothek entdeckte ich eine Einladung zu einer Lesung.
Dort würde Michael Klaus, ein mir damals unbekannter Schriftsteller und Dichter, eine Autorin vorstellen, die aus Rumänien stammend, ein Buch über das Leben dort geschrieben habe.
Der Abend wurde lang und unterhaltsam. Die Autorin schaffte es, in das rumänische Dorf zu entführen und Michael Klaus gab dem ganzen den notwendigen Rahmen und interessante weitergehende Infos.
Ich erfuhr staunend, dass Michael Klaus Mitglied des Schriftstellerverbandes P.E.N. sei und fühlte mich darin bestätigt, dass Gelsenkirchen eine Stadt mit Potential und Können ist, die Menschen machen den Unterschied! - nur, vielleicht mit einem Ticken zuviel an britischem Understatement ausgestattet:

Was mich an Gelsenkirchen stört, ist gerade nicht dieses Nichtindenvordergrund schieben, - das ist nach dem, was man so an Luft- und Seifenblasen gewohnt ist, wohltuende Erholung, sondern das sich Irgendwiedochschämen, Irgendwiedochkleinfühlen.

In Gelsenkirchen ist die dem Menschen ohnehin immanente Existenzangst, vielleicht als Resultat des Traumas aus dem massiven Arbeitsplatzabbau und der Umstrukturierung, besonders fühlbar in Zweifeln an sich selbst und an der eigenen Lebensumgebung.
Wen wunderts, nach so einem Absturz, - blieb für die, die es durch ihre Maloche zum Blühen gebracht hatten, doch überhaupt gar nichts mehr übrig zum Freuen - außer Schalke und die Familie.

Die Menschen machen jetzt in der Hauptsache die Stadt aus, nicht mehr die Fabrikschlote, die Zechen - die Heimat und Brot und noch viel mehr waren, aber im Grunde auch eine Ausbeutung von Mensch und Natur und Gesundheit darstellten.
Denn - wurde die Großindustrie für den Menschen geschaffen:

Aktuelle Ausstellung dazu:

http://www.fr-online.de/kultur/ausstellung--mythos-krupp--gute-zeiten-sind-staehlerne-zeiten,1472786,14575818.html

Bonjour Tristesse - auch 2012?

Ja und nun sei Gelsenkirchen wieder im Hintertreffen und überhaupt - ich werde die neueste Studie hier nicht zitieren, denn sie liegt schon in der Altpapiertonne -
sollten die Malocherkinder hier eine Kulturlandschaft nach bürgerlichem Maßstab erbauen?

Gelsenkirchen ist und wird das, was man daraus macht.

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"... Als ob das bloße Verlassen dieser Stadt einen Entwicklungsschritt bei ihnen in Gang setzen würde, der ihnen verwehrt bliebe, würden sie hierbleiben. ..."
Ja, prägt sich bei mir als Gefühl immer mehr aus. :-/

Bemerkenswert scheint mir vor allem Jürgens letzter Beitrag in dem verlinkten GG-Fred: KLICK

Gelsenkirchen - ein Zustand?
Da fällt mir doch gleich dies hier wieder ein: KLICK

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?!
Zitat "pito":

"Ja, prägt sich bei mir als Gefühl immer mehr aus. :-/"

Bist du da sicher? Woran zeigt es sich?

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Hier klebt der Boden. ;-)

... commentlink  

 
Ok
weg, aber wohin?

Denn:
weg ohne Weg - schwierig.

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Der Tag brachte das Buch zurück
Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie. Ottersberg - Fischerhude 1986.

http://www.booklooker.de/B%FCcher/Hausmann+Worpswede-Eine-deutsche-K%FCnstlerkolonie-um-1900/id/A00Fow6E01ZZw

Zitat daraus:

"So bestand in jener Gruppe der Gründergeneration...auch kein Programm im Sinne einer stilistischen Schule, sondern das Gemeinsame war es, unter Wahrung der Identität jedes einzelnen die Stärke des Naturerlebens....in der Kunst zum Ausdruck zu bringen."

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