nucleus-magazin

Sonntag, 22. April 2012

Ich hatte eine Freundin.
Einmal.
Bis ich sie durch mein Handeln verlor.

Sie und ich.
Ungleiches Duo, immer zusammen, kreativ, stundenlang am Telefon, Sorgen und Freuden teilend, zusammen auf der Suche nach dem, was uns wichtig war.

Ich bekam ihren ersten an einem PC geschriebenen Brief:
'Liebe Susanna (mein Name in unserem "Spiel"), dies ist mein erster Brief, den ich am Computer schreibe, und ich freue mich, dass er an Dich ist.'

Zusammen schleppten wir das Wahlplakat von Johannes Rau durch ihre Kleinstadt, machten damit Fotosessions auf dem Fußballplatz, im Schwimmbad und Treppenhaus.
Hörten Musik, sie so ganz andere als ich, aber wir konnten uns einigen, bei ihr hörten wir dann eben ihre Musik:
Sinead O' Connor - Nothing compares to you -, The Moody Blues - Nights in White Satin -, ihr Lieblingslied und die Songs, die sie aus Polen mitgebracht hatte.

Als sie neu in die Klasse kam, begutachteten und kommentierten viele ihre Kleidung. Negativ.
So etwas hatte ich schon bei "Ben liebt Anna" gelesen, und das konnte ich nicht zulassen, ich vermittelte - irgendwie.
Irgendwann wurde sie dann auch neben mich gesetzt, und ich begann, ihr Deutsch beizubringen.
Besonders schöne Wortneuschöpfungen von ihr notierte ich mir, und als ihr Deutsch gut genug war, lachten wir darüber.
Sie versuchte, mir ein bisschen Polnisch beizubringen, vermittelte mir einen polnischen Brieffreund und erzählte mir, wie dort die Jugend lebt und liebt - so romantisch.

Es ist der 8. März - sie kommt in die Klasse und guckt komisch. Ich frage sie, was los ist.
"Wo sind denn die Geschenke für die Mädchen?"
"Geschenke?" Ich weiß nicht, wovon sie spricht.
"Heute ist doch der 8. März, da bekommen alle Frauen Geschenke."

Das durfte ich in Russland ein paar Jahre später selber erleben. Da bekam ich dann mindestens Blumen, aber auch Kettchen aus echtem Silber und andere Kostbarkeiten.

Ich machte sie mit meinen Eltern und den Gepflogenheiten der deutschen Lebenskultur und -welt bekannt.
Wir waren beide davon nicht immer so angetan; es fehlte irgendwie das Feeling. Aber das versuchten wir dann eben durch unsere eigene Kreativität wettzumachen.

Wir machten Fotosessions mit verschiedenen Attributen und Styles.
Und dann gingen wir zusammen zum Frisör und ließen uns die Haare ganz kurz schneiden.

Wir imaginierten uns neue Vornamen und Geschwister, irgendwie fehlten die uns, sprachen von Zukunft mit noch unklarem Umriss und suchten uns einen Job.

Wir fanden ihn im evangelischen Krankenhaus, in dem ich auch geboren worden war. Wir arbeiteten meistens am Wochenende in der Teeküche. Dort stellten wir für den Rekordstundenlohn von 14,85 DM Tassen in die Geschirrspülmaschine, versorgten die Zimmer mit Wasser je nach Bestellung und räumten die Gläser von Beistelltischen wieder ab. Oder in den Ferien ab 7 Uhr morgens. Dann war aber Gänge wischen angesagt und Betten neu beziehen. Am besten gefiel mir die gynäkologische Station, dort roch es angenehm und manchmal wurde ein Winzling durch die Gänge geschoben.

Wir hatten Geld!
Und wieder jede Menge Gesprächsstoff. Ortsgespräche, damals noch längst nicht kostenlos, führten wir selten unter zwei Stunden, obwohl wir uns ja sowieso eigentlich immer sahen.

Jungsgeschichten hatten wir keine richtigen. Zusammen gingen wir auf die Partys unserer Klasse, aber die Jungs waren so furchtbar dröge und durch und durch konservativ. Als wir älter waren, traten sie reihenweise in die CDU und FDP ein.

Das war nicht unsere Welt. Wir waren an viel zu vielem interessiert und interkulturell aktiv, als dass uns diese Weltsicht zugesagt hätte.

Sie wollte Menschen helfen. Als Ärztin.
Ich wollte Menschen informieren und unterhalten. Als Rundfunkmoderatorin.

Das kristallisierte sich so heraus und oft sprachen wir darüber, ob wir es auch schaffen würden, unsere Träume zu realisieren.

Wir waren sehr verschieden, ich ganz mager und knabenhaft, sie rundlich, mütterlich, warmherzig.
Wir waren das, was man unzertrennlich nennt.
Über viele Jahre.

Bis sie auf die Idee kam, mir ihren Freund auszuleihen.
Aus Freundschaft.

Er sollte mir die Zeit vertreiben, so lange sie auf Urlaub in Polen war.
Ich war gerade aus England gekommen. Dort hatte es mir sehr gut gefallen, und ich hatte einen echten crush für England und einen gewissen Engländer mit dementsprechender Sehnsucht mitgebracht.

Um mich ein bißchen aufzuheitern, bekam also der Freund meiner Freundin den Auftrag, sich um mich zu kümmern.

Ein Anruf von ihm ließ nicht lange auf sich warten.

Ob ich ins Kino gehen wolle, Pretty Woman gucken?

Ja.

Schlechte Idee.

Irgendwann fingen wir an rumzuknutschen.

Hinter uns saßen - von uns zunächst unbemerkt - meine Klassenkameradinnen.

Trotzdem trafen wir uns noch ein paar Mal, es gab zwar keinen Sex, aber es war auch so schon intim genug.

Flucht nach vorne.
Als sie wiederkam, beichtete ich es ihr.
Da ich wusste, dass Treue für sie nicht nur ein Wort war, war mir klar, dass ich damit unsere Freundschaft irreparabel zerstört hatte.
Ich bat sie um Verzeihung.
Sie gewährte sie mir, ich bat auch ihre Eltern um Verzeihung, weil ich schon so etwas wie Familienanschluss gehabt hatte.
Alle verziehen mir, aber der Kontakt kam in dieser Nähe und Intensität nie wieder.

In der Oberstufe hatten wir durch unsere Hilfsprojekte und die Russlandfahrten noch viel miteinander zu tun, wir sahen uns auch, aber jeder ging - auch mit eigenen Freunden - nun eigene Wege.

Ich habe mir das aber nie verziehen.

Die einzige Freundin, die mich je auf eine - platonische - Art geliebt hat und ich sie, und es war doch immer das gewesen, was ich gewollt und mir so sehnlichst gewünscht hatte - eine echte Freundschaft.

Und das habe ich selbst zerstört.

Ich bin immer noch untröstlich, und ich vermisse sie.

2001 und 2011 haben wir telefoniert, sie wohnt gar nicht weit weg, aber sie meldete sich nicht wie angekündigt zurück, und dann belasse ich es lieber so.

Sie hat ihr eigenes Leben.

Was ist aus unseren Träumen geworden?

Sie ist keine Ärztin, sondern Sozialpädagogin und dreifache Mutter geworden, durch die Mutterschaft aber nie im Beruf tätig gewesen.
Die Rundfunkmoderation konnte ich bis zu meiner Mutterschaft zumindest umsetzen.......

Danke für Alles.

Für Dich.

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Mir scheint, dass Du insgesamt doch zu sehr auf die Vergangenheit fixiert bist. Ich weiß, dass es unglaublich schwer sein kann erlittene Verletzungen und selbstverschuldete Versäumnisse zu überwinden oder zumindest zu akzeptieren, dass man daran nichts mehr ändern kann. Tiefempfundene Reue kann, so meine persönliche Erfahrung, destruktiver für das eigene Ich sein als andere negative Emotionen wie Wut oder gar Hass.

Zitat1: „Morgen ist noch nicht gekommen, und gestern ist vorbei. Wir leben heute.“ Mutter Teresa

Zitat2: „Wenn Sie sich dabei ertappen, zu sehr in Erinnerungen zu schwelgen oder zuviel die Zukunft zu beschwören, dann geben Sie sich einen Ruck, und bremsen Sie sich. Sie leben hier und jetzt. Nur darauf kommt es an.“ Henner Ertel, Diplompsychologe

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pastpresentpastfuturepastfuturepresentpastpresentfuture
Zu einer Zukunftsorientierung, die gelingen soll, gehört eine bewältigte Vergangenheit.
Erst, wenn eine Sache wirklich als abgeschlossen betrachtet werden kann - wie auch immer dann das Abschließen gelang - kann man unbelastet neue Wege beschreiten.

Das dauert unterschiedlich lange.

In den letzten 12 Jahren des Alleinerziehens bin ich zu solchen Dingen einfach nicht gekommen.
Wenn ich es abends vor dem Einschlafen geschafft habe, einfach zwanzig Minuten zu lesen, war ich schon froh.
Davor lebte ich zusammen mit dem Kindesvater in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit allen Implikationen - und so kann ich mit Recht behaupten, zumindest seit fast zwei Jahrzehnten in der Hauptsache nur noch funktioniert zu haben.

Außerdem hätte eine Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Spurensuche nach Unbewältigtem mich in der alltäglich geforderten Stärke und Präsenz beinträchtigen können.
Dementsprechende Anregungen habe ich auch aus diesem Grund lange abgelehnt, es hätte mich niemand aufgefangen oder meine Arbeitskraft ersetzt, falls es mich zu sehr mitgenommen hätte.
Nichtsdestotrotz habe ich mir immer verschiedene Ansprechpartner gesucht, mit denen Dinge thematisiert werden können, die auch über das zum Beispiel in einem Blog Mögliche, hinausgehen können.

Ein Blog ist eine Möglichkeit, alles etwas im Rahmen zu halten, vielleicht auch in eine künstlerische Form zu bringen. Ursprünglich sollte es in ein Buch münden, mittlerweile scheint mir ein Blog ausreichend.

In der Gegenwart leben, nichts lieber als das!

Nur - momentan bedeutet Gegenwart eben Aufarbeitung. Neusortierung. Abschaffen von Ballast.
Das muss gedacht werden.
Möglich gemacht werden.
Alles auch mit Anstrengung verbunden.

Andererseits birgt es Erkenntnisse über all das, was ich bisher einfach übersehen habe.

Ich lerne mich seit einiger Zeit sehr genau kennen.

Das ist dann wieder ein sehr positiver Aspekt der Angelegenheit.

Es ist gut zu wissen, woran man bei sich ist.

Die Geschichte mit meiner Freundin ist in Zusammenhang mit kürzlich erlebter Geschichte wieder nach oben gekommen.
Ich habe mich gefragt, wie jemand, trotzdem ich ihm vertraut und Vertrauen angeboten habe, mich so enttäuschen konnte.

Damals habe ich meine Freundin sehr enttäuscht, obwohl sie ebenso viel Vertrauen in mich gesetzt hatte, obwohl sie mir zugeneigt und verbunden war.
Sie hat nicht nur mich verloren, auch ihren Freund und - viel Vertrauen. Soweit ich weiß, hat sie nie wieder eine solche Freundschaft aufgebaut.

Es zerstört mich nicht, Reue zu empfinden. Das habe ich vor 22 Jahren nicht anders als jetzt empfunden.

Ohne Reue auch kein Lerneffekt.

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Letzte Aktualisierung: 2014.07.26, 12:50
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