nucleus-magazin

Dienstag, 13. März 2012

Ich kann nicht sagen, dass ich meinen Eltern dafür dankbar bin. Andererseits wäre ohne diesen Zwischenfall mein Leben höchstwahrscheinlich sehr anders verlaufen.

Ende November 1986 war Elternsprechtagszeit und ich in der 7. Klasse. Ich lehnte es höflich aber bestimmt ab, zum Elternsprechtag mitzugehen. Meine Eltern waren da ganz anderer Ansicht und versuchten dieses nach verbalen Argumentationsketten handgreiflich durchzusetzen. Ich lag schon am Boden, rappelte mich irgendwie auf und sprang auf mein Bett, um mich von dort besser gegen Schläge verteidigen zu können. Dabei schlug ich mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Mir ging es danach so schlecht, dass ich nicht mehr mit musste. Ein paar Tage später bekamen wir eine Französischarbeit wieder, irgendwas mit einer Drei und ich sinnierte so vor mich hin, dass das Französische offensichtlich nicht meins sei, als ich plötzlich immer weniger sehen konnte. Ich wurde dann abgeholt und als wir zuhause ankamen, war ich komplett blind. Nur noch weiße Schleier. Die Kinderärztin drückte meiner Mutter sofort eine Überweisung fürs Krankenhaus in die Hand.

EEG und alles andere brachte wohl kein Ergebnis, trotzdem blieb ich ein paar Tage dort.

Im Krankenhaus freundete ich mich mit einem Mädchen an. Sie hatte auf der gegenüberliegenden Station einen Jungen kennengelernt. Irgendwann nahm sie mich mit zu ihm ins Zimmer. Hej, er sah aus wie Dieter Hallervorden in jung. http://www.tagesspiegel.de/berlin/hallervorden-der-spitzbart-muss-weg/1434284.html
Dazu hatte er noch eine Sicherheitsnadel im linken
Ohr und unglaublich blaue Augen mit schwarzem Lidstrich....
Als ich dann aus der Klinik entlassen wurde, fand ich das gar nicht gut.
Das war Anfang Dezember und er ging mir die nächsten Wochen nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwann haben wir uns wohl mal über darüber ausgetauscht, wo wir wohnen.

Ende Januar 1987 hatte ich wieder extremen Stress mit meinen Eltern.
Ich lief erstmals von zuhause weg.

Die Straße, die er mir angegeben hatte, lag in einem anderen Stadtteil und außerdem war sie mehrere Kilometer lang. Irgendwann kam ich dort an.
Wie sollte ich ihn jetzt finden? Ich wusste ja nicht mal seinen Nachnamen. Die Bebauung der Straße ist zweigeteilt, die eine Hälfte besteht aus frei stehenden Ein- und Mehrfamilienhäusern, die andere aus mehrstöckigen Gebäuden des sozialen Wohnungsbaus.
Ich beschloss mit letzteren anzufangen. Ich klingelte an jeder Tür, an allen Schildern.

"Guten Tag, wohnt hier im Haus ein Junge, fünfzehn Jahre alt, schwarzhaarig, mit einer Sicherheitsnadel im Ohr?"

Nein. Einige Stunden später überlegte ich mir, ob ich weiter suchen solle - nicht finden kann ich ihn immer, dachte ich mir, also weiter.

Ungezählte Häuserblocks später sprach ich vor einer Tür eine Frau mit dem gleichen Text an.
Ja, sagte sie, der wohnt hier und deutete auf das Namensschild.
Mein Herz klopfte. Klingeln, nicht klingeln, klingeln.
...Keiner öffnete.
Soll ich dich mit rein nehmen, fragte sie mich. Ja, klar.

Draußen stehen bedeutete auch, eventuell entdeckt zu werden, denn schräg gegenüber wohnte eine Schulkameradin, mit der ich befreundet war.

Die Frau zeigte mir die Etage und ich begann zu warten. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden - ich bekam Hunger, Durst. Nein, nicht weggehen - wohin auch.-

Nach fünf Stunden hörte ich ihn die Treppe heraufkommen. Zusammen mit seiner Mutter. Er war total erstaunt, mich zu sehen und lud mich zu sich ein.

Yeah!

Er konnte gar nicht glauben, dass ich ihn gefunden hatte, freute sich total und wir verabredeten uns!
Er brachte mich zur Haltestelle, da es schon spät war, und ich fuhr nach Hause und alles war unwirklich und weit weg.
Mir war egal, was mich zuhause wohl erwartete, ich war unantastbar glücklich.

Von da an begannen wir uns regelmäßig zu treffen. Als er das erste Mal bei mir klingelte und ich ihm die Tür öffnete, kam meine Mutter von hinten und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Er ging dann ums Haus herum, damit ich wenigstens vom Balkon aus mit ihm sprechen konnte. Wieder folgte mir meine Mutter und zog mich ins Zimmer und zog die Vorhänge zu.

"Du hast jetzt vier Wochen Stubenarrest!"

Super. Gut, dass meine Klassenkameradin seine Nachbarin war. Für 50,- Pfennig pro Stück transportierte sie von nun an Briefe hin und her.

Er schrieb mir, wie er die Situation im Krankenhaus empfunden hatte und wie das Mädel sich noch an ihn rangemacht hätte und wie ihm das missfallen hätte, wie er sich dagegen über mein plötzliches Auftauchen gefreut hatte und - nach ein paar Briefen - ob ich mit ihm gehen wolle.......

Ja!

Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass es sich so romantisch anfühlen würde, zumal ich Romantik damals für ziemlich zweifelhaft hielt.
Und die Geschenke.... irgendwas besonderes hatte er immer im Briefumschlag versteckt. Mal eine Brosche, mal ein Nietenarmband und.......seinen Kuss mit Lippenstift.

Was war ich nervös, als die vier Wochen endlich vorüber waren! Wie würde das jetzt losgehen mit dem zusammen gehen?

Gar nix ging los. Meine Eltern kriegten das irgendwie spitz, dass wir uns schrieben und immer noch trafen und vernichteten mein ganzes Briefpapier und seine Geschenke. Dann verlängerten sie einfach den Stubenarrest.

Wir trafen uns am Freitag, den 20. März 1987, trotzdem.
Wir besprachen die Misere und ich beschloss, nicht wieder nach Hause zurückzukehren.

Damals hatten meine Eltern ein Reihenhaus angemietet. Die beiden obersten Häuser in der Reihe waren noch Rohbauten. Buchstäblich an der Hauswand begann die Pferdeweide des Bauern. Irgendwer war auf die Idee gekommen und hatte das Erdgeschoss des Rohbaus bis zur Decke mit Stroh gefüllt. Hier würden wir bleiben.
Draußen lag Schnee und es schien mir eine gute Idee, es nicht ganz so kalt haben zu müssen.

Wir begannen, uns wohnlich einzurichten.
Die Fensterhöhlen stopften wir mit Stroh aus, vor die Tür stellten wir ein Brett. Den ganzen Boden legten wir auch mit Stroh aus. Ja, so konnte es bleiben.
Es roch außerdem fantastisch. Wenn ich das heute rieche, habe ich die Szene und sogar das Gefühl wieder vor Augen.

So langsam kam der Abend und ich wollte ihn unbedingt küssen. Ich wollte ihm das aber ganz unbedingt nicht sagen. Wie sollte ich das bloß hinkriegen? Und außerdem hatte ich das noch nie gemacht und ja irgendwie fing ich dann mit Zeichensprache an, Luftbuchstaben....grins.....

Er verstand mich und in diesem feschen Eigenheim küssten wir uns dann. Stundenlang. Wir hatten ja Zeit. Ich hatte noch einen Schirm mit, den stellten wir noch hinter uns auf die Strohmauer, die das Kopfende des imaginären Bettes bildete.

Irgendwann schliefen wir dann ein. Vorher deckten wir uns noch mit Stroh zu.
Am Samstag tranken wir Schnee und taten nichts weiter als küssen, umarmen und noch mal küssen.
Am Sonntag bekamen wir Hunger und liefen kilometerweit zum Bahnhof, um in die Stadt zu fahren und um uns dort etwas zu essen zu kaufen.
Zwei Snickers für jeden. In Brake gab es nicht mal nen Kiosk. Wenn man soviel küsst, ist man irgendwann nicht mehr so ganz da und essen ist dann auch nicht mehr wichtig, von Luft und Liebe leben ist wohl nicht frei erfunden.

Am Montag war dann wieder Schule.

Ich war eine brave Schülerin. Also ging ich dorthin.
Ziemlich zerzaust, voller Stroh und total übermüdet kam ich dort an. Etwas später wurde ich dann zur Direktorin berufen, dort wartete schon die Polizei auf mich.

"Wir suchen Dich schon seit zwei Tagen, wir bringen Dich jetzt nach Hause."

Ich machte mich schon wieder auf jede Menge Schläge gefasst. Aber nein, die Polizei war ja dabei. Die fragte dann auch, warum ich weggelaufen sei und ob es Probleme gäbe. Meine Eltern deuteten auf das gut situierte Wohnumfeld und sagten: "Was denn für Probleme?!"
Damit war der Fall für die Polizei erledigt. Sie gingen und ließen mich mit meinen Eltern allein.
Ob sie mit mir jetzt zum Frauenarzt gehen müsse, fragte mich meine Mutter.
Klasse, dachte ich mir. Sie, die jedes Gespräch ablehnt, was sich nicht um Schule dreht, die mich überhaupt nicht kennt, weil sie nie mit mir spricht, unterstellt mir natürlich, Sex gehabt zu haben.

"Nein, musst du nicht."

Ich versuchte stattdessen, das Gespräch auf ihn zu bringen, meinen Freund.

"Davon will ich nichts wissen, Du hast, solange Du hier wohnst, keinen Freund zu haben und wenn Du 18 oder 20 bist, auch nicht. Wir sind kein Puff." So war es dann im Übrigen auch. Kein Wunder, dass ich versuchte, so schnell wie möglich auszuziehen. Mit 19 gelang es dann Gott sei Dank.

Zurück zu ihm. Er stellte mir die Band "Die Ärzte" vor. Die ersten Lieder waren Paul und Claudia.
Die Ärzte retteten mir in seelischer Hinsicht das Leben. Mit ihren frechen, unsinnigen und lauten Liedern konnte ich mich über viele beschissene Situationen in meinen Jugendjahren retten. Außerdem machten sie mich stark, gegen meine Eltern und andere zu opponieren, die der Ansicht waren, sich durchsetzen zu dürfen, weil sie die Macht dazu haben.

Wir es mit mir und ihm weiterging.......er machte mich mit seiner Clique bekannt, mit der wir dann auch schon mal bis nachts um drei unterwegs waren. Wir erkundeten einen riesigen verlassenen Bunker, sahen die Phosphorzeichen im Dunkeln leuchten, spielten dort Verstecken und natürlich küssten wir uns weiterhin und vielleicht wären wir auch noch weitergegangen, aber ich war erst 13 und er 15. Er meinte, das wäre nicht ok, also beließen wir es dabei.
Er hatte einen Freund, der schon 18 war, an dem faszinierte mich irgendwie alles, sein Kleidungsstil, sein Auftreten. Er sah geradezu unverschämt gut aus, den wollte ich dann auch mal küssen. Tja, das macht man nicht, wusste ich, aber widerstehen, ach nö. Das habe ich erst viel später gelernt, soviel Selbsdisziplin wollte ich mir damals nicht verordnen. Hinter irgendsoeinem Trafohäuschen küssten wir uns dann. Aber das war nix ;-) Stattdessen übernahm ich für lange Zeit vieles von seinem Kleidungsstil und die Strähne.

Danach machte mein Freund natürlich mit mir Schluss.

Das war nicht schön, aber irgendwie hatten wir beide auch keine Kraft mehr für diese Beziehung. Meine Mutter hatte seine ganzen Briefe gefunden, unterstrichen und der Polizei vorgelegt, die Geschenke entsorgt -
ich war noch einmal weggelaufen, diesmal übernachtete ich in einem Jugendheim für Mädchen.Dort gefiel es mir aber nicht und ich musste wieder nach Hause. Ich wäre gern in das der Schule angegliederte Internat gegangen, aber das wollten meine Eltern nicht finanzieren. Irgendwie wollte ich ihm diesen ganzen Stress auch nicht mehr zumuten.

Ich hatte dann erst nach fünf Jahren wieder einen Freund, wenn man von Partyknutschereien mal absieht - aber es gab Joanna und das ist wieder eine andere Geschichte.

Ein Vierteljahrhundert später habe ich diese Geschichte heute endlich aufgeschrieben. Schon damals meinten die Mädels in der Klasse, schreib das mal auf........



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