nucleus-magazin

Dienstag, 7. Februar 2012

Vor mehr als elf Jahren verstarb meine erste große Liebe mit 23 Jahren.

In den Tagen vor seinem plötzlichen Tod hörte ich erstmals wieder seit Jahren die Lieder von "Kino", einer russischen Rockformation, dessen Frontmann Viktor Zoi bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und dessen umpilgertes Grab ich einmal in St. Petersburg besucht hatte.

Ich wusste nicht, warum ich diese Musik, die nie wirklich Lieblingsmusik gewesen war, plötzlich tagelang hören wollte.
Ich wusste auch nicht, warum es mir so schlecht ging, niedergeschlagen und fertig.

Als ich bei ihm zuhause anrief, um die Versendung eines Präparates für seine an Krebs erkrankte Mutter zu besprechen, sagte mir seine Schwester:

Ilja ist tot.

Tot.

Tot.

Atmet nicht mehr.
Spricht nicht mehr.
Lacht nicht mehr.
Braucht keine Kleidung mehr.

Musste sterben.

Meine Freundin Nina bat ich zur Beerdigung zu gehen, da ich so schnell kein Visum bekam.

"Er sah aus, als ob er schliefe", sagte sie.

Ich weinte.
Jeden Tag.
Viele Male am Tag.

Nie, nie, nie würde ich ihn wiedersehen.

Ich träumte immer wieder den gleichen Traum:

Ich stand neben seinem offenen Grab auf dem Friedhof und hielt ihn auf meinen Armen. Ich hielt seine Hand und sagte: "Du musst keine Angst haben, ich bin bei Dir. Du bist jetzt zwar tot, aber das bedeutet auch, dass Du es überstanden hast. Du musst jetzt nicht mehr leiden."

Jedesmal träumte ich, wie ich ihn tröstete und ihm versicherte, dass er keine Angst vor dem Grab haben müsse, da ich bei ihm wäre.

Als er starb, war die Liebe zwar erkaltet, der Summerfling schon sechs Jahre vergangen, aber es traf mich so tief, dass ich mein Lachen für lange Zeit verlor.

Es fühlte sich an, als ob ich selber stark verwundet worden wäre, wie ein Schnitt, der nicht zu nähen war.

Ein Jahr später sandte mir seine Schwester das silberne Kettchen zu, das ich ihm einmal geschenkt hatte und das er in den Jahren bis zum Tod getragen hatte.

Da ich gerade auf dem Weg zur Dusche war, als der Postdienst kam, nahm ich das Kettchen mit unter die Dusche. Plötzlich fing ich wieder an zu lachen. Und zu weinen. Und beides gleichzeitig. Über das Lachen rannen die Tränen nur so hinweg.

Ich trug die Kette mit dem kleinen Kreuz und dem Christus, der mit beiden Füßen auf dem Totenkopf steht, bestimmt drei Jahre, ohne sie abzunehmen.

Irgendwann war dann die Trauerphase endlich richtig überwunden und ich nahm das Kettchen ab.

Ein Gedicht von ihm.

Du stirbst - träumend

Du lebst für irgendwas, niemanden liebend
Sich auflösend im Umfang Tag für Tag
Du siehst sogar die Sonne, und nachts die Mondscheibe
Aber allmählich stirbst Du - träumend.

Du lebst nicht, wie alle, Du steckst fest in dem
Was Dir gefällt, wir leben davon
Von denen wie wir, gibt es nicht wenige, man sagt, dass wir krank seien
Wir sterben allmählich - träumend.

Unsichtbare Fäden flechten immer stärker
Schnüren tiefer, denke an sie
An die, die Du hasst oder liebst - oje
Du stirbst allmählich - träumend.

Nachts tanzt Du oder gehst spazieren ohne Augen
Du nimmst nicht das Leben für Geld - Du bist einer von uns
Dir hilft niemand, hilf Dir selbst
Denn Du bist es, der Dein Leben in Nebel verwandelt.

Hilf Dir selbst, finde Kraft in Dir
Denn die Bilanz fängt bei Dir an
Ja, Du kannst schon nicht mehr, stehst schon nicht mehr
"Ich kann jederzeit damit aufhören", sagst Du ihnen.

Sterbend - stirb, das heisst, Du bist schwächer
Mach ein warmes Bad, öffne Dir schnell die Venen
Die Probleme haben gesiegt, los, spring aus dem Fenster
Wer braucht Dich im Leben, allen ist es egal.

Fall schon auf den Boden, lass die schwarze PM fallen
Das halbe Zimmer im Blut, dafür gibt es keine Probleme
Du sagst es Gott, dass Du nicht schuldig bist
Du hast Dein Leben zerrissen,- Du fällst in die Hölle.

Das Leben wird fortgesetzt, die Zeit geht weiter
Du bist bald dran, es kommt auch Deine Zeit
Vielleicht ist es wert darüber nachzudenken,
warum es wert ist zu leben?
Leben, um zu sterben oder zu leben, um zu leben.
(um zu lieben)


Ilja (1977 - 2000)

Für S. (1953 - 2000), seine Mutter

Nach dem Tod hörten wir (Freunde und Angehörige) erstmals davon, dass er Gedichte geschrieben hatte. Vielleicht hätte man ihn retten können, wenn man diese Texte rechtzeitig gelesen hätte. Vielleicht aber auch nicht.

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Letzte Aktualisierung: 2014.07.26, 12:50
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